Das jüngste Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Kopftuchverbot geht an der Lebenswirklichkeit vorbei. Es übersieht die politische Entwicklung der letzten Jahre in der islamischen und arabischen Welt. Und es überfordert Schulen und Kommunen.
Auch wenn der Koran das Kopftuch nicht ausdrücklich fordert, ist es für viele Muslima ein religiöses Symbol. Doch dort, wo es um politische Macht geht, ist es vor allem ein hochpolitisches Symbol. Denn wenn sich ein Land von gottesstaatlichen Ordnungsgedanken distanzieren will, wird das Tragen des Kopftuches verboten. Und umgekehrt: Das Kopftuch wird dann propagiert, wenn oft menschenrechtsver-achtende Regime, die sich auf einen mittelalterlichen Islam berufen, ihre Macht ausbauen wollen: in Afghanistan, im Iran, in Ägypten unter den Moslembrüdern und vorsichtiger auch in der Türkei.
Als Erdogan schon Ministerpräsident war und noch der kemalistische Staatspräsident Sezer amtierte, begann ein Katz- und Mausspiel um den Platz des Kopftuchs im staatlichen Protokoll der Türkei: der Präsident reiste fortan ohne seine Ehefrau ins Ausland, damit Erdogan keinen Anlass fand, ihn mit seiner kopftuchtragenden Frau am Flughafen zu verabschieden. Der Satz des Bundesverfassungsgerichts, "Vom Tragen eines islamischen Kopftuchs geht für sich genommen noch kein werbender oder gar missionarischer Effekt aus", hätte in diesen Tagen von Erdogan stammen können und nicht wenige hätten ihm damals geglaubt.
Als dann die AKP die alleinige Macht hatte, lockerte Erdogan das Kopftuchverbot in der Türkei nach und nach mit dem Ziel, eine „fromme Jugend“ zu formen. Mittlerweile ist das Kopftuch in der Türkei überall fest etabliert. Das war der Hebel, um bald 100 Jahre nach Kemal Atatürk wieder aus der Neuzeit auszusteigen. Erdogans rückwärtsgewandte Politik geht weiter: er plant, dass in den Schulen wieder verpflichtend Osmanisch gelehrt werden soll, welche in arabischer Schrift geschrieben wird. Parallel drohte er, soziale Netzwerke in der Türkei abzuschalten – bei Twitter machte er die Drohung sogar zeitweise wahr.
Die islamistische Bewegung Milli Görüs e. V. scheint ähnlichen Denkmustern zu folgen, weshalb sie vom baden-württembergischen Verfassungsschutz seit Jahren beobachtet wird. Sie betreibt eine Ausbildung zu einer islamischen Identität, wirbt für das Kopftuch und beabsichtigt die Etablierung einer „islamischen Ordnung“. Der Verband weigert sich offen, im Kampf gegen religiösen Extremismus mit deutschen Behörden zusammenzuarbeiten.
In den meisten islamischen Ländern geht das Kopftuch mit einer massiven Einschränkung von Frauenrechten einher. Im Iran ist das Kopftuch ein Symbol für die Herrschaft der korrupten Mullahs und der Geltung eines mittelalterlichen Rechtssystems. Frauen, die keine Kopfbedeckung tragen, werden von der 'Religionspolizei', die ohne Hoheitsabzeichen und Fahrzeugkennzeichen unterwegs sein darf, verhaftet und im Wiederholungsfall ausgepeitscht. Das Kopftuch ist hier Symbol einer politischen Gesinnung, Zeichen diktatorischer Willkürherrschaft und die Absage an das Wertesystem des Westens, gegen die Gleichberechtigung der Frau.
Als in Tunis nach dem ‚arabischen Frühling‘ 2011 eine islamisch-konservative Regierung Elemente einer islamischen Ordnung durchsetzen wollte, ging das Volk immer wieder auf die Straße. Es waren dort zu 80 Prozent Frauen, die für Demokratie und gegen Unterdrückung demonstriert haben. Diese Frauen wussten, warum. An die Seite dieser Frauen sollten wir uns stellen! Heute haben wir in Tunesien die einzige wirkliche Demokratie im arabischen Raum.
Nach geltender Gesetzeslage wird in Baden-Württemberg niemandem das Kopftuch verboten. Nur eine Lehrerin, welche Beamtin mit speziellen Rechten, Pflichten und mit Vorbildfunktion ist, muss - nur und ausschließlich - in der Zeit, in der sie unterrichtet und somit als Repräsentantin unseres Staates vor den Schülerinnen und Schülern steht, auf das Kopftuch verzichten. Damit wird aktiv dem Eindruck entgegengewirkt, unser Staat billige Anschauungen oder stehe ihnen auch nur gleichgültig gegenüber, die unseren Grundwerten zuwider laufen.
Das Bekenntnis zu christlichen und jüdischen Symbolen weist auf unsere Werteordnung im Grundgesetz und in der Landesverfassung hin: Freiheit, Menschlichkeit, Gleichberechtigung zwischen Frau und Mann. Dieses Bekenntnis kann und muss unzweideutig bestehen bleiben, ohne dass daraus in irgendeiner Weise eine überhebliche Attitüde oder eine „Rangfolge“ der Religionen abgeleitet werden kann.
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist Ausdruck falsch verstandener Toleranz. Es öffnet die Tür des Klassenzimmers für politische Anschauungen, die gerade nicht mit unserem Wertefundament in Einklang stehen. Der Druck auf Mädchen, sich wie die Lehrerin traditionell zu kleiden, nimmt zu, nicht ab.
Das Urteil ist darüber hinaus auch nicht handhabbar: Die Einschränkung auf eine Gefährdung des Schulfriedens hält kein Schulpraktiker für umsetzbar. Was soll als eine konkrete Gefahr gewertet werden? Eine Anschlagsdrohung in der Nähe? Eine Milli Görüs-Moschee in der Nachbarschaft? Der Beweispflicht einer „Gefährdung“ nachzukommen, scheint im Alltag kaum umsetzbar.